Islamische Welt: Säkularismus vollends gescheitert?

Die Türkei hatte die Chance, ein vorbildlicher laizistischer Staat zu werden. Doch mit Erdogan fällt das Land in alte Verhältnisse zurück. Diese Entwicklung ist beispielhaft für die islamische Welt.

„Wir sind ein muslimisches Land. Als Konsequenz müssen wir eine religiöse Verfassung haben.“ Dies sind die aktuellen Worte des türkischen Parlamentspräsidenten Ismail Kahraman, wie unter anderem der Spiegel unter Berufung auf Meldungen der Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Der Säkularismus, so forderte Kahraman, dürfe in der neuen Verfassung keine Rolle mehr spielen.

Die Forderungen des türkischen Parlamentspräsidenten spiegeln den Kurs von Recep Tayyip Erdogans Regierungspartei AKP wider. Die einstigen laizistischen Reformen des großen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, der den anatolischen Teil des einstigen Osmanischen Reiches in den modernen Staat der Türkei umformte, werden Schritt für Schritt zurückgedreht. Die Türkei entwickelt sich von einer modernen säkularen Republik zu einem islamistischen Staat.

Der Säkularismus ist in der gesamten islamischen Welt auf dem Rückzug

Zwei zentrale Beobachtungen zeigen einen unübersehbaren Trend auf: In den allermeisten christlich geprägten Gesellschaften der westlichen Welt haben sich säkulare und laizistische Formen des Staatswesens durchgesetzt. Es herrscht Glaubens- und Meinungsfreiheit. Hier können unterschiedliche Glaubensgemeinschaften nebeneinander existieren. Diese Entwicklung ist das Ergebnis der Aufklärung und sozialer Revolutionen.

Dagegen ist in fast allen mehrheitlich islamisch geprägten Gesellschaften die Trennung von Staat und Religion entweder nicht gelungen oder niemals angestrebt worden. Der Trend ist hier gegenteilig. Säkulare Modernisierungsversuche des 20. Jahrhunderts werden fast überall zurückgefahren. Die Tendenz zur Politisierung des Islam ist allerorten erkennbar. Nichtislamische religiöse Minderheiten sind in Gefahr. Die sozial und religiös restriktivsten Länder der Erde sind fast ausnahmslos islamisch geprägt.

Die islamische Welt befindet sich eindeutig in einer anderen Phase als die westlich-moderne und in ihrem Ursprung christliche Welt. Man erkennt, dass zwei völlig Unterschiedliche Prozesse ablaufen: Säkularisierung des Westens versus Politisierung des Islams. Gleichzeitig scheint die westliche Säkularisierung einen Freiraum zu schaffen, in den der Islam vordringt.

Säkularismus und Islamismus sind gegensätzliche politische Strömungen

Man greift zu kurz, wenn man auf die Unterschiede in den heiligen Schriften und theologischen Schulen der beiden großen Weltreligionen verweist und dies als Begründung für die unterschiedlichen  politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen heranzieht.

Auch das sogenannte christliche Abendland hatte eine Phase durchlaufen, in der Politik und Religion eng verwoben waren und Glaubensfragen restriktiv gehandhabt wurden. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit waren geprägt von solchen Auseinandersetzungen. Die Erinnerung an die Inquisition und Reformationskriege ist noch nicht verblasst.

Wichtiger als die Suche nach den Ursachen, die vielmehr eine akademische Aufgabe ist und in die Seminare der Universitäten gehört, ist die Anerkennung der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Realität und des eindeutigen Trends, zu dem man sich verhalten muss. Die Konsequenzen des expandierenden Islamismus in den Freiraum des Säkularismus hinein scheinen von der Politik nicht ausreichend bedacht zu werden.

Eine Zeitlang schien der Säkularismus im Nahen Osten möglich

Der Westen hatte im Zeitalter des Kolonialismus säkulares und modernstaatliches Gedankengut in den Nahen und Mittleren Osten gebracht. Der direkte Vergleich der damaligen islamischen Welt mit Europa hatte vielen Intellektuellen die Augen geöffnet: Europa war in jedweder Hinsicht fortschrittlicher, die Lebensverhältnisse besser. Die Staaten und Gesellschaften waren effizienter strukturiert. In einer Epoche des Fortschrittsglaubens hatten diese Argumente Gewicht.

So verhasst die französischen und britischen Kolonialherren in Nordafrika und im Nahen Osten auch waren: Sobald die Länder dieser Region wieder in die Unabhängigkeit entlassen wurden, behielten sie ihre modernen Verwaltungen und Regierungsstrukturen bei. Man wollte mit Europa auf gleicher Augenhöhe stehen.

Mustafa Kemal Atatürk war einer der ersten und prominentesten Vertreter der Vorstellung, dass man von Europa lernen müsse, um mit der modernen Entwicklung der Welt Schritt zu halten. Seine Reformen waren so radikal, dass sie sogar mit Verboten einhergingen. So etwa das Verbot der Verschleierung der Frau im öffentlichen Raum.

Doch hierzu brauchte man eine intellektuelle Grundlage, die die Modernisierung mit dem Islam versöhnte. Einer der Islamgelehrten, der diese Grundlage mitgestaltete, war damals der ägyptische Scharia-Richter Ali Abdel Raziq. Er behauptete, dass der Koran und die Scharia nicht eindeutig einen Gottesstaat fordern würden. Die Muslime seien also frei, ihre Herrschaftsform selbst zu gestallten.

Solches Gedankengut war natürlich in der Minderheit, doch einflussreich genug, um genügen Denkstoff für all die Modernisierungsversuche zu bieten, die im Nahen und Mittleren Osten ausprobiert wurden. Besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Säkularisierungsideen mit anderen ideologischen Gedanken aufgewertet.

Zwei dieser säkularen Ideologien, die im Nahen und Mittleren Osten Verbreitung fanden, waren der pan-arabische Sozialismus und der arabische Nationalismus. Die Regime von Muammar al-Gaddafi in Libyen, von Gamal Abdel Nasser in Ägypten oder Hafiz al-Assad in Syrien waren von diesem Gedankengut geprägt.

Die Blütezeit des Säkularismus in Nordafrika und im Nahen Osten waren die 1950er bis 1970er Jahre. In Algier, Tunis, Tripolis, Kairo, Damaskus und Bagdad sah man Frauen in westlichen Hosen oder Röcken über die Straßen laufen. Die Mädchen gingen in Bagdad in ähnlichen Schuluniformen zur Schule wie zur selben Zeit in Israel.

Selbst in Persien zur Zeit des Schahs oder im sozialistischen Kabul war westlicher Lebenswandel verbreiteter als heute. Doch all diese Entwicklungen spielten sich in den Städten ab. Auf dem Lande blieb die Bevölkerung den alten Traditionen verbunden.

 

Vom Scheitern des Säkularismus

Es gibt viele Gründe für das Scheitern des Säkularismus. Einer der wichtigsten Gründe ist die Bevölkerungsexplosion im 20. Jahrhundert, die zur Landflucht geführt hat. Die Landbevölkerung konnte mit dem städtischen Lebensstil aus dem Westen nichts anfangen. Dieser Gegensatz lässt sich insbesondere in den Metropolen beobachten, wie Kairo oder Istanbul.

Ein weiterer Grund war die Verteufelung westlichen Lebensstils und Gedankenguts durch islamistische Bewegungen, die die Europäer als Unterdrücker und Feinde des Islams gesehen hatten. Ein Beispiel hierfür waren die Muslimbrüder in Ägypten.

Ebenso bedeutsam bei der Bekämpfung des Säkularismus waren die Monarchien am Golf, allen voran Saudi-Arabien. Die arabischen Königsfamilien wie beispielsweise die Sauds sahen durch die bloße Existenz von Republiken wie in Ägypten, Syrien oder dem Irak ihre eigene Herrschaftslegitimation infrage gestellt. Ihre Antwort darauf war, ihre Ölmilliarden in islamistische Bewegungen weltweit zu investieren und sich selbst als die Vertreter des wahren Glaubens zu inszenieren.

Schließlich war es der Westen selber, der islamistische Oppositionen förderte. Hintergrund war der Kalte Krieg. Man wollte nicht, dass sich die arabischen Staaten zu sehr an die Sowjetunion anlehnten. Vor allem wollte man die Verstaatlichungen der Ölproduktion verhindern oder rückgängig machen.

Bei der Bekämpfung der Sowjettruppen in Afghanistan hat sich die Mobilisierung der Mudschaheddin als besonders effektiv erwiesen. Damit war der Geist des militarisierten Heiligen Krieges wieder aus der Flasche gelassen. Dieselbe Taktik war auch gegen die syrische Regierung von Baschar al-Assad angewandt worden. Um ihn zu stürzen, wurden islamistische Rebellen und Oppositionelle unterstützt.

Islamismus darf nicht den europäischen Säkularismus gefährden

Niemand kann in die ferne Zukunft schauen. Doch kurz- und mittelfristig von einer Umkehrung des Prozesses auszugehen wäre naiv und fahrlässig. Der politische Islam gewinnt in allen Ländern der islamischen Welt und auch in Europa an Anhänger. Die Auslegungen werden immer radikaler, die Entschlossenheit der religiösen Eiferer immer besorgniserregender.

Europa muss damit rechnen, dass der politische Islam auch hierzulande wächst. Es ist schlichtweg nicht anzunehmen, dass Entwicklungen, wie sie zurzeit in der Türkei und in verschiedenen arabischen Ländern stattfinden, nicht auch die in Mitteleuropa lebenden Muslime beeinflussen.

Wer daher Worte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit und Freiheit der Kunst sowie Trennung von Staat und Religion im Munde führt, muss den Säkularismus genauso konsequent zu verteidigen bereit sein, wie andere ihre Religion. 

Beitrag erschien zuerst auf freiewelt.net